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Organspende:Ein kritischer Blick auf die sogenannte Widerspruchslösung

Die aktuelle Debatte um eine rechtliche Neugestaltung der postmortalen Organspende in Deutschland bietet eine gute Gelegenheit, um die Stärken und Schwächen unseres Transplantationssystems kritisch zu analysieren. Auf den ersten Blick scheint vieles dafür zu sprechen, das gegenwärtige Informations-Modell zugunsten einer sog. Widerspruchslösung aufzugeben, bei der alle diejenigen automatisch zu Organspendern werden, die dem nicht ausdrücklich widersprochen haben. Auf diese Weise ließe sich – so die Erwartung – rasch die Zahl der verfügbaren Organe erheblich steigern und damit der Tod vieler schwerkranker Menschen auf der Warteliste verhindern.
Arzt mit Kittel und Stethoskop
Datum:
2. Okt. 2024
Von:
Andreas Kaul

von Franz-Josef Bormann

Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass gewichtige Gründe dafürsprechen, an der ausdrücklich erklärten Zustimmung des Spenders als Voraussetzung für die Organentnahme festzuhalten. Wieso sollte das dem Schutz der Patientenautonomie dienende informed consent-Modell, das sonst in allen Sektoren der Medizin ganz selbstverständlich akzeptiert wird, ausgerechnet in diesem besonders sensiblen Segment außer Kraft gesetzt werden? Wir sprechen ja keineswegs zufällig von ‚Organ-Spende‘ und nicht etwa von einer ‚Organ-Enteignung‘, um auszudrücken, dass die Initiative für den Prozess der Organentnahme von der Person des Spenders selbst ausgehen muss. Eine ‚Spende‘ ist ein freiwilliger Akt, der auf einer bewussten Entscheidung beruht und als solcher weder erzwungen werden darf noch auch nur im strengen Sinne erwartet werden kann. Es gibt auf Seiten des Spenders ebensowenig eine Verpflichtung zur Abgabe bestimmter Organe wie es auf Seiten des Organempfängers einen Rechtsanspruch auf die Nutzung fremder Organe geben kann. Der moralische Wert der Organspende liegt vielmehr gerade darin, dass sie wohlüberlegt, bewusst und freiwillig erfolgt und dabei in aller Regel altruistisch motiviert ist. Organe sind keine öffentlichen Güter, über die Dritte beliebig verfügen dürften. Sie bilden vielmehr integrale Bestandteile des Leibes eines Menschen und stehen daher zwangsläufig in einem besonders intimen Verhältnis zu dessen Individualität. Massive Eingriffe in diese leib-seelische Einheit sind daher auch dann, wenn sie postmortal erfolgen, in hohem Maße rechtfertigungsbedürftig und setzen in der Regel die ausdrückliche Erlaubnis des Betroffenen voraus.

Da Organspende insgesamt Vertrauenssache ist, wäre zu prüfen, wie sich unter strikter Wahrung der Autonomie des Spenders latentes Misstrauen in die Transplantationsmedizin überwinden ließe, um so die abstrakt hohe Spendebereitschaft in der Bevölkerung in eine größere Anzahl tatsächlicher Organspenden zu überführen. Dazu ist es erstens erforderlich, die Aufklärung zu verbessern. Nur wenn die ‚ganze Geschichte‘ einer Organspende in ihrem kompletten zeitlichen Ablauf einschließlich aller medizinischen Maßnahmen zum Schutz der einschlägigen Organe in verständlicher Form erzählt wird, kann sich ein medizinischer Laie eine ungefähre Vorstellung davon machen, was auf einen Spender wirklich zukommt. Bei einer fachgerechten Aufklärung sollte der potenzielle Spender auch ausdrücklich auf die Möglichkeit einer individuellen Gestaltung des Umfangs einer Organspende hingewiesen werden. Ein zweites Desiderat betrifft den Umgang der Ärzteschaft mit latent vorhandenen Zweifeln an der Validität des sog. Hirntod-Kriteriums. Die Bundesärztekammer sollte es nicht dabei bewenden lassen, lediglich die medizinisch-technischen Kriterien für die Hirntoddiagnostik in regelmäßigen Abständen zu aktualisieren, sondern sich auch aktiver darum bemühen, in allgemeinverständlicher Weise die anthropologische Plausibilität der Annahme darzulegen, dass der irreversible Funktionsausfall des Gehirns nach heutigem Wissenstand wirklich ein verlässliches Kriterium für die Feststellung des Todes einer Person darstellt. Drittens wäre angesichts verschiedener Unregelmäßigkeiten in der Vergangenheit zu prüfen, ob es bezüglich der organisatorischen Aspekte der Transplantation nicht noch weitere Verbesserungspotenziale im konkreten Ablauf der Organverpflanzung gibt, um künftige Manipulationen von Patientendaten auszuschließen und das Systemvertrauen der Bevölkerung zu stärken. 

Die praktische Umsetzung dieser Desiderate mag anspruchsvoller und schwieriger sein als eine simple gesetzliche Beweislastverkehrung im Sinne der Widerspruchslösung. Doch dürfte sie sich mittel- und langfristig insofern als vorzugswürdig erweisen, als die Bürger zu Recht überzeugt und nicht übertölpelt werden wollen.

Über den Autor

Franz-Josef Bormann, ist Professor für Moraltheologie an der Universität Tübingen. Er ist geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für medizinische Ethik (ZfmE) und war bis April 2024 Mitglied im Deutschen Ethikrat.